Raumerfindungen nach Alain Corbin

Der in Paris lehrende Historiker gehört zur jüngeren Annales-Generation, die zwar die Geschichte der Zusammenhänge menschlicher Lebensverhältnisse von ihren sozialpsychologischen, ökonomischen und geographischen Bedingungen her zu analysieren sucht, aber durchaus kritisch den Konzepten ihrer Vorgänger gegenübersteht. Corbin hat dazu Studien vorgelegt, die wie in Le Miasme et la Jonquille (1982) die sich wandelnde Einstellung zu Gerüchen mit ihren Auswirkungen auf das Sozialverhalten in der Stadt beschreiben oder wie in Les cloches de la terre (1994) die einstige Bedeutung des Glockengeläuts im sozialen und kulturellen Zusammenleben in Dorf, Region oder Land darstellen. Mit Le territoire du vide (1988) veröffentlichte der häufig als »Kulturhistoriker der Sinne« bezeichnete Corbin eine Arbeit, die das Verlangen der Menschen nach Küste und Strand als eine Sehnsucht ausweist, die sich erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert im Zuge einer allmählichen Raum-Umwertung entwickelte. Zuvor hingegen hatte man diesen Ort als ein Relikt der Sintflut und als von Fabelwesen bevölkert gemieden. Indem jedoch Theologen begannen, auch die Küste als einen von Gott geschaffenen Raum aufzufassen und Mediziner für das Heilbad im Meer warben, führte der neu entdeckte Aufenthalt an der See zu einer ‚Erfindung’ des Strandes mit seinen bis dahin ungekannten Formen des Vergnügens und Beisammenseins.

Mit Blick auf das Raumkonzept der langen Dauer nach Fernand Braudel zeigt das Beispiel Corbins, dass Lebensräume nicht als in sich dauerhafte Größen angesehen werden sollten, sondern als Orte, die jeweils durch bestimmte Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen konstituiert und somit zum Teil vollkommen neu erfahren und inszeniert werden können.

Corbin schreibt: „Es ist Zeit, dass die Historiker sich wieder aus der Fessel des Begriffs der langen Dauer lösen, dass sie sich freimachen von den versetzten Rhythmen der Braudelschen Zeitlichkeit [...]. Solche Überzeugungen machen es schwierig, Entstehungsgeschichten und Genealogien zu verfolgen, erst recht aber, dem kohärenten Vorstellungssystem einer gegebenen Epoche auf die Spur zu kommen.“ (1988, S. 360). Er setzt dabei voraus, dass es auf Grundlage eines heterogenen Quellenmaterials (Akten, Bilder, Architektur und Literatur) möglich ist, die Gefühls- und Wahrnehmungswelt einer vergangenen Epoche zu rekonstruieren.

Thorsten Feldbusch