Das Modell des Paradigmenwechsels

Der Begriff des Paradigmas ist heute ein häufig verwendeter und scheinbar standardisierter Ausdruck in verschiedenen Wissenschaften. Er wird dermaßen vielfältig verwendet, dass er als Analysebegriff kaum noch Verwendung findet. Selbst sein Initiator, der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, hatte sich in seinen späteren Arbeiten von ihm abgewandt, weil er der Vielfalt seiner Verwendungsweisen nicht mehr Herr wurde und in der allgemeinen Sprachverwirrung keinen Erkenntnisfortschritt mehr sehen konnte.

Dabei hat er nicht unwesentlich zu dieser Verwirrung beigetragen. In seinem Buch The Structure of Scientific Revolution gibt es nach Aussage einer Kritikerin mehr als sechzig Bedeutungen des Begriffs Paradigma. Zunächst bedeutet der Begriff wörtlich verstanden ‚Beispiel’ und in diesem Sinn - und weniger im Sinn von Kategorie, wie er heute meist verwendet wird - verwendet ihn das Kuhnsche Denksystem. Ein Paradigma ist ein exemplarischer Lösungsweg, der in einem Buch oder einem Aufsatz formuliert sein kann, dessen Struktur Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nutzen können, um weitere anstehende wissenschaftliche Probleme zu lösen. In diesem Sinn und bezogen auf die Naturwissenschaften verwandte Thomas S. Kuhn Anfang der 1960er Jahre in seinem Buch The structure of scientific revolution den Begriff.

Kuhn entwickelte seinen Ansatz am Beispiel des Übergangs von der traditionellen Newtonschen zur modernen Einsteinschen Physik. Er geht von einem historischen Entwicklungsmodell der Wissenschaften aus. In Zeiten sogenannter ‚normaler Wissenschaft’ herrscht eine Forschung, die fest auf einer oder mehrerer wissenschaftlicher Leistungen der Vergangenheit beruht. Die in dieser Tradition stehenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sehen diese Arbeiten als Grundlage ihres eigenen Forschens an. Nach und nach macht man aber Erfahrungen, die in das bekannte Schema nicht einzuordnen sind. Es beginnt eine Zeit der Krise, in der die Ausgangsannahmen modifizierende Vorschläge erarbeitet werden, um die Abweichungen zu integrieren. Manches, was nicht einordbar ist, erfordert aber nicht nur eine Ausdehnung des bisherigen Forschens, sondern einen qualitativen Sprung. Nach diesem befindet man sich in einer neuen Epoche wissenschaftlicher Forschung. Sie wird ausgelöst, indem man sich von nun an einem oder mehreren Beispielen orientiert, die bei der Lösung der offenen Fragen als vielversprechend angesehen wurden. Solche Arbeiten sind dann die Paradigmen: „Paradigmata erlangen ihren Status, weil sie bei der Lösung einiger Probleme, welche ein Kreis von Fachleuten als brennend erkannt hat, erfolgreicher waren als konkurrierende“. (Kuhn S. 37)

Paradigmata sind keine Regeln, sondern beispielhafte Lösungen von Problemen, an denen man sich orientiert, um weitere Probleme zu lösen. Im Laufe der Zeit verdichten sich die Paradigmen zu formulierbaren Regeln wissenschaftlicher Forschung und ihrer Auffassung von Wirklichkeit. Spätestens jetzt wird die Phase der wissenschaftlichen Revolution von einer neuen Phase ‚normaler’ Wissenschaft abgelöst. Bis Erfahrungen, die Probleme aufkommen lassen, die sich im Rahmen des gültigen Paradigmas nicht lösen lassen, eine neue revolutionäre Phase auslösen.

Kuhns Denken war in einigen Punkten radikal anders als bestehende Auffassungen: er ging nicht mehr von einem linearen Fortschritt aus, also nicht mehr davon, dass jede kleine neue Erkenntnis den Kosmos des gesamten Wissens ergänzt, sondern dass diese ein akzeptiertes Paradigma bestätigen und in seiner Reichweite vergrößern. Für Kuhn stand nicht mehr die Kontinuität der Wissenschaftsgeschichte, sondern die Differenz im Mittelpunkt. Hier ähnelt er Foucault. Entscheidend war aber auch seine Auffassung, dass konkurrierende Paradigmen nicht kommensurabel sind. D.h. sie sind nicht auf irgendeiner Ebene miteinander vereinbar, ineinander übersetzbar oder auf einer abstrakteren Stufe auflösbar, sondern bleiben sich fremd. Der Glaube an die Einheit der Wissenschaft und der sie tragenden einheitlichen Vernunft und Rationalität war damit aufgebrochen.

In der Geschichtswissenschaft haben besonders Jörn Rüsen und sein Kreis sowie einige wissenschaftshistorische Forschungsgruppen den Begriff aufgenommen. Allerdings weniger im Sinn einer beispielgebenden Arbeit, an der man sich orientiert, als vielmehr im Sinn einer grundlegenden Kategorie. Kuhn selbst hat sein Modell in diese Richtung weiterentwickelt, dann aber nicht mehr von Paradigma sondern von einer disziplinären Matrix gesprochen.

Stefan Haas

Literatur:

Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. div. Ausgaben (Ea Chicago 1962).

Hoyningen-Huene, Paul, Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme 1989. Sehr gute, breit recherchierte und intensiv durchdachte Darstellung und Analyse der Kuhnschen Theorie.