Die Disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft nach Rüsen

Jörn Rüsen ist einer der einflussreichsten Geschichtstheoretiker seiner Generation. In Kontext einer Neuformulierung der Historik hat er den Begriff der disziplinären Matrix, wie er von Thomas S. Kuhn zur Analyse der Naturwissenschaften entwickelt worden war, auf die Geschichtswissenschaft übertragen. Dabei erwartete er von dieser Adaption eine strukturgeschichtliche Vertiefung der zur damaligen Zeit weitgehend personengeschichtlich betriebenen Wissenschaftsgeschichte sowie eine fundierte Analyse der Prinzipien der historischen Wissenschaften. Der Hintergrund vor dem Rüsen arbeitete, war der paradigmatische Wandel vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft.

Als ersten Faktor der disziplinären Matrix der Geschichtswissenschaft sieht Rüsen ein fundamentales Bedürfnis nach der Orientierung der menschlichen Lebenspraxis in der Zeit, was sich im Erkenntnisinteresse an der Vergangenheit äußere. Diese Orientierungen werden modifiziert zu gezielten Interessen an der historischen Erkenntnis, wodurch ein Bezug hergestellt werde zwischen Vergangenheit und Gegenwart und damit aus einer Vergangenheit Geschichte werde. Es sind Ideen, die als leitende Sinnkriterien die Orientierungsbedürfnisse in der Zeit zu Interessen an der historischen Erkenntnis umformen. Diese Ideen bilden den zweiten Faktor der disziplinären Matrix. Sie bestimmen, welche Aspekte der Vergangenheit als Geschichte zum Erkenntnisbereich der Geschichtswissenschaft gehören. Erst durch diese Vorstrukturierung wird eine gezielte Befragung der Geschichte möglich, und lassen sich Quellen interpretieren. Die Methoden der empirischen Forschung bilden den dritten Faktor der disziplinären Matrix der Geschichtswissenschaft. Die Darstellungsformen, denen Rüsen bereits eine hohe Bedeutung zumaß, als dies noch kaum in der Geschichtswissenschaft thematisiert wurde, bilden den vierten Faktor. Den fünften stellen jene Handlungen und Orientierungen dar, die die Erkenntnisse des geschichtswissenschaftlichen Forschens in die Daseinsorientierung integrieren.

Rüsen hat in den fünf von ihm herausgearbeiteten Faktoren eine dynamische Beziehung, die es erlaubt anzunehmen, dass die Daseinsorientierungen des fünften Punktes wiederum den ersten Faktor generieren, sodass sich aus den Faktoren ein Kreislauf geschichtswissenschaftlichen Forschens und Erkennens ergibt. Mithilfe der Rezeption des Begriffs der disziplinären Matrix war es Rüsen gelungen, nicht nur einzelne Ideen der Geschichtswissenschaft heraus zu arbeiten sondern ihren inneren kohärenten Zusammenhang begrifflich zu formulieren und in eine Theorie der Geschichtswissenschaft einzubetten. Insofern stellten diese Forschungen der 1970er und frühen 1980er Jahre einen wichtigen Schritt dar, historische Ansätze als in sich geschlossene Theorien zu formulieren, die nicht aus einem Puzzle bestehen, deren Einzelteile willkürlich ausgetauscht werden können, sondern die, um zu funktionieren, einen in sich kohärenten und stringenten argumentativen Zusammenhang aufweisen müssen. Eines der Resultate solcher Ansätze war, dass mehrere disziplinärer Matrices neben einander bestehen können. Rüsen selbst hat diesen Gedanken der Globalisierung in seinen früheren Arbeiten noch nicht ausgesprochen. Er ist aber eine logische Folge des Ansatzes und ist in den 1990 Jahren von vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen weiterentwickelt worden.

Stefan Haas

Literatur

Jörn Rüsen: Der Strukturwandel der Geschichtswissenschaft und die Aufgabe der Historik, in: Alwin Diemer (Hg.): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und die Geschichte der Wissenschaften. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens 8.-10. Mai 1975 in Münster (Studien zur Wissenschaftstheorie, Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung, Arbeitskreis Wissenschaftstheorie Bd. 10) Meisenheim 1977, S. 110-119.

Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, bes. S. 24-29.