Das Individuum als Erkenntnissubjekt – Erkenntnistheoretischer Individualismus

Um das Individuum als Erkenntnissubjekt ansehen und diese Position argumentativ ausarbeiten zu können, müsste man von etwas ausgehen, das spezifisch individuell ist und nur für dieses eine Individuum typisch ist. Es muss als Differenz zwischen ihm und anderen Individuen in den Blick kommen. Daher scheiden alle Elemente aus, die in irgendeiner Form kollektiv geformt sind, wie beispielsweise Nationalität, Generation, Geschlecht oder Ethnie. Darüber hinaus scheiden alle Faktoren aus, die sich in irgendeiner Form als Rationalität beschreiben lassen. Rationalität, also Vernunft oder Verstand, zeichnet sich in unserem Verständnis gerade dadurch aus, dass sie überindividuell funktioniert. Mittels der Vernunft können Argumente angegeben werden, die jenseits des bloß Individuellen liegen. Insofern die Rezipienten ebenfalls vernunftbegabt sind, können Sie diese nachvollziehen, auch ohne das aussagende Subjekt zu verstehen. Vernunft und Rationalität sorgen für eine Ablösung der Erkenntnis vom Individuellen – vorausgesetzt es gibt Rationalität und Vernunft im menschlichen Leben.

Es bleiben demnach nur irrationale Faktoren übrig. Dabei sollte man Irrationalität nicht alltagssprachlich negativ verstehen. Irrational ist alles, was der Vernunft nicht zugänglich ist, wie beispielsweise Liebe - und die hat nichts Negatives an sich. Irrationale Faktoren, die für Erkenntnis verantwortlich gemacht werden können, sind Phantasie oder Einbildungskraft. Dies geschieht beispielsweise in der Erkenntnistheorie des Historismus. Dieser ist, da er für die historischen Wissenschaften einen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Entwicklung im 19. Jahrhundert bezeichnete, ein idealtypisches Modell für eine individualistische Erkenntnistheorie in den Geisteswissenschaften.

Daneben kann auch der Lebenslauf als individueller erkenntnisleitender Faktor benannt werden. Dies geschieht beispielsweise in einem relativ neuen französischen Ansatz, dem der „ego-histoire“. Die Forschungsrichtung, die sich selbst diesen Namen gegeben hat, thematisiert die spezifischen Verknüpfungen von Erkenntnisinteresse und Lebenslauf. In diesen Zusammenhang gehören auch neuere Versuche, Erkenntnis mit dem Begriff der Erinnerung zu koppeln. Erinnerung kann dabei als die Fähigkeit bezeichnet werden, historische Ereignisse und Phänomene auf den eigenen individuellen Sinnhorizont zu beziehen.

Stefan Haas

Literatur

zum Historismus siehe unter den spezifischen Kapiteln

Zur Ego-Histoire

Zur Erinnerung als Ansatz in der Geschichtswissenschaft

Stefan Haas: Philosophie der Erinnerung. Kategoriale Voraussetzungen einer mnemistischen Geschichtswissenschaft, in: Clemens Wischermann (Hg.), Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 31-54.

Katja Patzel: