Begriffsgeschichte als theoretischer Ansatz – Reinhart Koselleck

Begriffsgeschichte ist zunächst eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die neben anderen, wie der Technik-, der Diplomatie- oder der Verwaltungsgeschichte steht. In den 1960er und 70er Jahren jedoch hat die Begriffsgeschichte ebenso wie die Sozialgeschichte, den Anspruch erhoben, die anderen Teildisziplinen in sich zu bergen, sie zu strukturieren und den unumgehbaren Ausgangspunkt einer in sich konsistenten allgemeinen Geschichte darzustellen. In dieser wissenschaftshistorischen Situation war zwar die Sozialgeschichte, besonders in Gestalt der Historischen Sozialwissenschaft, als Leitdisziplin dominant. In den Arbeiten des lange Zeit in Bielefeld lehrenden Historikers Reinhart Koselleck hat die Begriffsgeschichte aber eine theoretische Formulierung und Reflexion erreicht, die sie als gleichberechtigten theoretischen Ansatz neben der Sozialgeschichte erscheinen ließ.

Diesen Anspruch, Leitdisziplin zu sein, hat Koselleck selbst erhoben: „[Die Sozialgeschichte und die Begriffsgeschichte] erheben von ihrer theoretischen Selbstbegründung her einen allgemeinen Anspruch, der sich auf alle Sozialgeschichte ausdehnen und anwenden lässt. Denn welche Geschichte hätte es nicht sowieso mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun, mit Gesellungsformen jedweder Art oder mit gesellschaftlichen Schichtungen, so dass die Kennzeichnung der Geschichte als Sozialgeschichte einen unwiderlegbaren – gleichsam anthropologischen – Daueranspruch anmeldet, der sich hinter jeder Form der Historie verbirgt. Und welche Geschichte gäbe es, die nicht als solche begriffen werden müsste, bevor sie zur Geschichte gerinnt? Die Begriffe und deren sprachliche Geschichte zu untersuchen, gehört so sehr zur Minimalbedingung, um Geschichte zu erkennen, wie deren Definition, es mit menschlicher Gesellschaft zu tun zu haben.“ (Koselleck 1986, 89)

Koselleck ist der Auffassung, dass sich in den Begriffen, besonders in den zentralen Begriffen wie Nation, Staat, Geschichte oder Gesellschaft, die Geschichte dergestalt niederschlägt, dass diese eine Reflexion des Geschehenen darstellen. Dieser Prozess ist so eigenständig, dass eine Begriffsgeschichte nicht wie im Sinne des Marxismus als ideologische Reflexion der Klassenauseinandersetzungen gelesen werden darf. In dessen Augen sind Begriffe nur Demonstration und Legitimation des Machtanspruchs, den eine Klasse in der sozialen Auseinandersetzung erhebt. Sie sind eine Ideologie, die logisch als Folgephänomen der eigentlich zentralen sozioökonomischen Geschichte zu behandeln ist.

In Kosellecks Konzeption reflektiert Begriffsgeschichte die Sozialgeschichte, neben der sie als der zweite wesentliche Bestandteil der Allgemeinen Geschichte steht. Sie beeinflusst aber ihrerseits auch die Sozialgeschichte. Beide stehen zueinander in Beziehung, ohne dass eine der beiden auf die andere reduziert und ganz von ihr abgeleitet werden könnte. Koselleck vertritt mit dieser Auffassung einen Dualismus von Sozial- und Begriffsgeschichte, der nicht in einer, beiden übergeordneten Kategorie aufgelöst werden kann. Peter Schöttler wird diesem Dualismus nicht gerecht, wenn er Kosellecks Ansatz folgendermaßen beschreibt: „Begriffsgeschichte i.S. Kosellecks ist eine durch sozialhistorische Fragestellungen und Methoden geschulte und transformierte Ideengeschichte, die sich auf die langfristige Entwicklung besonders beutungsvoller Wörter konzentriert“ (Schöttler 173)

Der Sozial- und Begriffsgeschichte sind alle anderen Teildisziplinen der Historischen Wissenschaften nachgeordnet und wesentlich von diesen bestimmt. So ist eine Technikgeschichte nicht adäquat zu schreiben, wenn nicht eine Sozialgeschichte und eine Begriffsgeschichte der Technik als Grundlegung der Geschichte der Technik behandelt werden.

Den Beginn einer Auseinandersetzung um die gegenseitige Verflechtung von Sozial- und Begriffsgeschichte und damit seine wissenschaftshistorische Verortung setzt die Begriffsgeschichte in der Form, die Koselleck und seine Schüler entwickelt haben, in den 1930er Jahren in den Arbeiten von Walter Schlesinger und Otto Brunner an. Der Dilthey-Schüler Erich Rothacker, der Rechtswissenschaftler Carl Schmitt und der Sprachwissenschaftler Jost Trier bilden andere wichtige historische Bezugspunkte.

Koselleck sah zwar Sozial- und Begriffsgeschichte als aufeinander bezogen, aber nicht als in einem deterministischen Kausalverhältnis stehend an. „Es herrscht immer eine Differenz zwischen einer sich ereignenden Geschichte und ihrer sprachlichen Ermöglichung. Keine Sprechhandlung ist die Handlung selbst, die sie vorbereiten, auslösen und vollziehen hilft“ (Aufsatz S. 94) Zwar räumt Koselleck ein, dass es vereinzelt solche sprachliche Handlungen gibt, er selbst nennt als Beispiel den Führerbefehl zum Einmarsch in Polen. „Eine Geschichte vollzieht sich nicht ohne Sprechen, ist aber niemals identisch mit ihm, sie lässt sich nicht darauf reduzieren.“ (S. 94) Gesellschaftliche Veränderung führt zu begrifflicher Reflexion, die selbst wiederum gesellschaftliche Veränderung herbeiführt. Gleichzeitig nehmen beide Teilbereiche Bezug auf vorherige Entwicklungen in ihrem eigenen Feld, so dass die Allgemeine Geschichte nicht als ein beständiger Pendelschlag zwischen den Polen Gesellschaft und Begriff geschrieben werden kann. Zwischen beiden besteht auch ein bedeutender Bereich einer nicht überbrückbaren Differenz, die sich von der Geschichtswissenschaft nicht in kausalen Verhältnissen auflösen lässt.

Wie eine bestimmte historische Entwicklung zu interpretieren ist, muss im Einzelfall geklärt werden. Ein allgemeines Gesetz, wie sich soziale Realität und Begriffe zueinander verhalten und sich bedingen, lässt sich nicht angeben. Koselleck hielt an einem Dualismus fest, den er nicht dialektisch auflöste. Theoriehistorisch blieb dieser Ansatz wenig entwicklungsfähig, weil er gegenüber den ebenfalls stark sprachhistorisch verfahrenden diskursanalytischen Ansätzen wenig über die Funktionsweise von Sprechen und Schreiben als Handlungen, als soziale Praktiken aussagte. Die dem linguistic turn radikaler folgenden Ansätze haben den von Koselleck noch vertretenen Dualismus dahingehend formuliert, dass eine Handlung in ihrer Bedeutung immer von ihrer sprachlichen Benennung präfiguriert ist und nur im Rahmen seiner sprachlichen Realisierung verstanden werden kann. Das Werk des Bielefelder Historikers gehört aber zu den zentralen Entwicklungslinien, die den Weg öffneten für eine Erfahrungsgeschichte. Für sie eröffnete die Begriffsgeschichte Koselleckscher Prägung die Möglichkeit, im Dualismus von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte den Rahmen zu bestimmen, in dem Erfahrung in einer historischen Situation überhaupt möglich, formulierbar und damit in die soziale Realität einwirkend denkbar wird.

Stefan Haas

Literatur