Kritik an der Mentalitätsgeschichte

Die beiden wohl bedeutendsten Schwäche der Mentalitätsgeschichte als kategorialer Position bestanden im letztlich nicht überzeugend gelungenen Nachweis, dass Bewusstsein tatsächlich primär kollektiv strukturiert ist und nicht nur in einer jeweils differierenden Aneignung sozialer Faktoren besteht – und in der daraus resultierenden Schwierigkeit, den Begriff der Mentalität randscharf zu definieren. Die meisten Artikel zur Mentalitätsgeschichte bestimmten ihren Grundbegriff nur unzureichend, leiteten ihre Theorie nicht her, sondern illustrierten einige allgemeine Standpunkte, die kaum über eine Meinungsäußerung hinausgingen, mit historischen Beispielen, die durch ebensolche in primär strukturdeterministischer Betrachtungsweise erschütterbar blieben. Allzu oft begnügte man sich mit der chronologischen Wiedergabe der klassischen Positionen von Febvre und Bloch bis zu Ariès, auf deren etablierten Schultern man auf die Entwicklung eines schlüssigen theoretischen Konzepts zu verzichten können glaubte. Andererseits war es gerade diese Unbestimmtheit, die dem Begriff der Mentalität einen Konnotationsraum verlieh, der in einzelnen Studien fruchtbar für die Erklärungen und besonders spannend für die Lektüre einzusetzen war. Bereits 1979 konstatierte Jacques Le Goff den Wandel von der Mentalitätsgeschichte zur Geschichte der Ideologie, des Imaginären und des Symbolischen (in: Les trois fonctions-indo-européennes. L’historien et l’europe féodale, in: Annales 34 (1979), S. 1196). Er nahm damit das Aufgehen der Mentalitätsgeschichte in der ungleich dichter theoretisch fundierten und thematisch breiter angelegten Neuen Kulturgeschichte vorweg.

Stefan Haas

Literatur siehe unter Mentalität