Geschichte als Beispielsammlung

Geschichte als Bewusstsein für die zeitliche Entwicklung und Veränderung von Wirklichkeit und damit von der Kontingenz und Variabilität von menschlicher Lebenswelt ist keine anthropologische Konstante, sondern selbst Resultat eines Entwicklungsprozesses. Seinen Durchbruch erlebte dieser spezifische Geschichtsdiskurs im 19. Jahrhundert im Historismus, hat aber Vorläufer in der Aufklärung.

In der Vormoderne wird dagegen mit Geschichte wenn auch nicht ausschließlich, so doch weitgehend in einer Form umgegangen, die sich noch in der zweiten Bedeutung des Begriffs Geschichte als Narration und Erzählung widerspiegelt. Besonders in juristischen Texten galt Geschichte als eine Sammlung von Beispielen, auf die man sich bei der Findung von Recht berufen konnte. Dabei wurde die Zeit, aus der ein Beispielfall stammte, nicht berücksichtigt. Seit der Renaissance konnte sich eine Argumentation bis zur Antike erstrecken. Dieser Umgangsweise mit Geschichte fehlt das, was der Historismus „Historisches Bewusstsein“ nennt, also die Bereitschaft, die Entstehungszeit eines Phänomens als wesentlich für seine Konsistenz zu betrachten. Der vermeintlich unkritische Umgang mit dem Wahrheitsgehalt der überlieferten ‚Historiae’ führte im Historismus zur Entwicklung einer quellenkritischen Methode, um den Wahrheitsgehalt von Quellen zur eruieren.

Stefan Haas