Erklären und Verstehen/Das Menschenbild des Historismus

Ein wichtiger Ausgangspunkt des Historismus ist seine Ablehnung der Naturwissenschaften. Dies wird formuliert in der Differenz von Erklären und Verstehen, die zugleich die Ansicht des Historismus über das methodische Vorgehen der Geschichtswissenschaft beinhaltet.

Erklären, eine Variante der Erkenntnis, die der Historismus zwar akzeptiert, aber nicht für zentral hält, bedeutet, ein Phänomen kausal aus einem anderen Sachverhalt abzuleiten, mithin die Frage zu stellen, warum etwas so ist, wie es ist. In den Augen der Historisten ist dies das Verfahren der Naturwissenschaften. Zu dieser Variante gehören des Weiteren das Experiment als Verfahren, die Wiederholbarkeit als Voraussetzung und das Naturgesetz als Erkenntnisziel.

Für den Historismus steht dagegen der Begriff der Individualität im Vordergrund. Warum etwas Individuelles so ist, wie es ist, kann man – in der disziplinären Matrix des Historismus - nicht kausal erklären. Auch bei gleichen einzelnen Bedingungen, entstünde nicht dasselbe ein zweites Mal. Das Individuelle kann man nur verstehen. Dieses Individuelle ist dabei meist ein menschliches Individuum, für die Geschichtsschreibung meist ein sogenanntes ‚großes Individuum’, d.h. ein einflussreicher Politiker oder ein bedeutender Künstler. Aber auch Epochen oder Nationen können als Individuen verstanden werden. Daher Rankes Diktum: „Jede Epoche ist gleich nah zu Gott“. Dies bedeutet, dass nichts Individuelles dem anderen vorzuziehen ist oder sich einem Ziel näher befindet als andere Individualitäten. In dem genannten Satz von Ranke ist somit auch eine Ablehnung von universellen Fortschrittsauffassungen enthalten. Die Historisten waren der Überzeugung, dass, würde man ein Individuum kausal erklären, man es aus anderen Faktoren ableiten müsste, als aus ihm selbst. Dies geschieht beispielsweise in einer milieutheoretischen Soziologie. Wenn das Verhalten eines Menschen aus seiner Sozialisation erklärt wird, dann ist die Ursache seines Handelns nicht mehr er selbst, sondern seine Erziehung. Er ist nicht mehr selbstbestimmt, sondern eingebunden in Faktoren, die ihn prägen oder sogar determinieren. Der Historismus wollte eine solche Abhängigkeit des Menschen nicht akzeptieren. Für ihn war der individuelle Mensch ein letztes, nicht mehr ableitbares Phänomen. Der letzte Grund zur Erklärung von Phänomenen in der selbst erschaffenen, menschlichen oder „geschichtlich-gesellschaftlichen“ Welt (Dilthey), die nach anderen Prinzipien funktioniert als die Natur. Diese Lehre vom Verstehen des Individuellen verdichtet sich zur historistischen Hermeneutik als erkenntnistheoretischer Grundlage des Historismus.

Stefan Haas