Historische Sozialwissenschaft/Gesellschaftsgeschichte I

Ähnlich wie bei anderen Begriffen auch, meint Historische Sozialwissenschaft nicht prinzipiell jene Teildisziplin, die sozialwissenschaftliche Betrachtungsweisen auf historische Gegenstände anwendet, sondern eine namentlich und zeitlich eingrenzbare Strömung innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft. In neueren Publikationen wird sie auch Gesellschaftsgeschichte genannt, was zwar Ähnliches meint, aber dennoch eine andere Wortkonnotation mitschwingen lässt. Ihre Betonung liegt auf sozialhistorischen Phänomenen und sozialwissenschaftlichen Argumentationsformen. Bereits im Begriff grenzt sie sich jedoch von der Sozialgeschichte ab. Mit dieser wird im weiteren Sinn jede Form der Geschichte sozialer Phänomene bezeichnet. Im engeren Sinn aber ist Sozialgeschichte im deutschen Wissenschaftskontext der Begriff für eine Gegenbewegung zum vorherrschenden Historismus in den 1950er Jahren, die bemüht war, Themenfelder der Geschichtsforschung zu erweitern und neue Methoden zu entwickeln. Ihre prominentesten Vertreter sind Werner Conze und Theodor Schieder, die auch zur Lehrergeneration der Hauptvertreter der Historischen Sozialwissenschaft zählen.

Kurz zusammenfassend kann man die Historische Sozialwissenschaft folgendermaßen charakterisieren:
Was ist h.S.? Eine Richtung innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft, die sich gegen die Konzentration der Geschichtsbetrachtung auf politische Ereignisse wandte und an Stelle der traditionellen Hermeneutik des Historismus ein an der Empirischen Sozialforschung orientiertes methodisches Vorgehen präferierte.

Wann entstand h.S.? In den 1960er Jahren. Sie gehört zu den Bewegungen, die auch zu den Studentenunruhen 1967/68 führten. Sie ordnet sich im linksliberalen Spektrum ein, ist aber trotz einer Auseinandersetzung mit Marx weder orthodox- noch neo-marxistisch.

Wer entwickelte sie? Im Wesentlichen sind zwei Namen mit ihr verbunden: Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. Beide wurden Anfang der 1970er Jahre an die neugegründete Universität in Bielefeld berufen. Daher bezeichnet man h.S. auch als "Bielefelder Schule". Man tut sich schwer, andere Namen zu nennen, da sie meist nicht in dieser Reinform den Ansatz vertreten haben, aber man kann noch in das Umfeld zählen: Wolfgang J. Mommsen, Hans Mommsen, Heinz Gerhard Haupt, Ute Frevert.

Wer sind ihre Gegner? Vertreter des Historismus haben die hS vehement bekämpft. Hätten die hSler nicht in der Ausbauphase der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gearbeitet und hätten damit relativ jung neu begründete Lehrstühle besetzen können, wäre ihnen der Erfolg weitgehend aufgrund der harschen Gegnerschaft der etablierten Historiker versagt geblieben.

Auf wen berufen sie sich? Die hS haben den Mythos in die Welt gesetzt, es habe vor ihnen keine durchsetzungsfähige Alternative zum Historismus gegeben. Dies ist nicht richtig und die Rede vom Scheitern der Kulturgeschichte arbeitet mit Argumenten, die am Maßstab der Hegemonie des Historismus ausgerichtet sind. Die hSler haben aber viel dafür getan, die Geschichte der Geschichtswissenschaft neu zu erforschen. Dabei ist eine Menge von Namen aufgetaucht, die in der gängigen Geschichtswissenschaft untergegangen sind, sei es, weil sie kaum Chancen zu einer Karriere hatten, sei es, weil der Nationalsozialismus sie in die Emigration trieb oder ermordete. Zu diesen gehören u.a. Eckardt Kehr und Otto Hintze, deren Werke neu herausgegeben wurden. Wehler hat eine Sammlung von Taschenbuchbänden unter dem Titel "Deutsche Historiker" herausgegeben, in denen all jene Historiker vertreten sind. Zentraler Ansatzpunkt aber ist für die Historische Sozialwissenschaft das Werk Max Webers, das gleichsam bibelhafte Züge annahm und aus dem für jedes Thema eine entsprechende kategoriale Definition herausgezogen wurde. Dabei wurde häufig eine in die Breite gehende Diskussion bestehender Diskussionsalternativen zugunsten des einseitigen Bezuges auf den Meister unterlassen.

Wichtig sind auch jene Historiker, die zwischen der älteren Form, Sozialgeschichte zu betreiben und der hS vermittelnd stehen. Sie haben wesentlich zu einer thematischen Öffnung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 50er Jahren beigetragen. Zu nennen sind hier Theodor Schieder und Werner Conze.

Was ist der lebensweltliche Hintergrund? Wie viele jüngere Menschen haben auch die Vertreter der historischen Sozialwissenschaft die Zeit des Nationalsozialismus nur als Kinder erlebt, Wehler, als der wohl älteste, wurde 1931 geboren. Ihre Probleme ergaben sich aus der spezifisch deutschen Geschichte, aus den Verstrickungen in den Nationalsozialismus und aus der Unfähigkeit der Deutschen, nach 1945 mit dieser Geschichte umzugehen. Anders aber als die direkt Betroffenen erweiterten sie die Perspektive um die Entwicklungen in Frankreich, England und den USA und zogen aus dieser Geschichte jene Theoreme der Industrialisierung, Demokratisierung und Emanzipation, die unter dem Begriff der Modernisierung zusammengefasst wurden (eine Debatte, die stark von amerikanischen soziologischen Arbeiten beeinflusst war). Daraus leiteten sie den Begriff des "deutschen Sonderweges" ab. Damit ist eine Entwicklung umschrieben, die von den im frühen 19. Jahrhundert angelegten "Normalentwicklungen" von Demokratie, freier Marktwirtschaft, Bürgergesellschaft, Emanzipation, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit, Verfassung u.s.w. abwich und über den preußischen Obrigkeitsstaat zum Nationalsozialismus führte. Die Fragen der Historischen Sozialwissenschaft kreisen im Wesentlichen um diese deutsche Geschichte.

Was ist der Hauptgegenstand der Untersuchungen? Ist das Thema der deutsche Weg in den Nationalsozialismus, so sind ihre Gegenstände im Wesentlichen wirtschafts- und sozialgeschichtliche Strukturen, die sie bewusst von einer Geschichtsbetrachtung der Ereignisse und großen Männer abgrenzen.

Welche Methoden werden verwendet? Im Wesentlichen ist das Neue an der Methodologie der hS die Einbeziehung soziologischer Theorien unter Ablehnung des historistischen Nachempfindens. Damit werden Ansätze verwendet, die für die Gegenwart entwickelt worden sind. Der Historismus hätte dies abgelehnt. Die hS versteht sie als heuristische Mittel, als Werkzeuge, um zu einem kontrollierbaren Ergebnis bei der Beschreibung vergangener Phänomene zu gelangen. Man geht davon aus, dass der Historiker die Geschichte befragen muss, nicht, dass diese selbst spricht. Dennoch glauben die Historiker der hS fest an die Existenz der außerhalb ihrer selbst liegenden Geschichte. Ihr Konstruktivismus ist noch ein gemäßigter, kein radikaler. Weiter