Raum als Kategorie

Es scheint selbstverständlich zu sein, dass sich menschliches Leben ebenso wie in der Zeit immer in einem Raum stattfindet. Dennoch haben sich Geisteswissenschaftler mit dem Raum immer relativ schwer getan, zumindest wenn es darum ging, in diesem mehr zu sehen als einen Gegenstand der Forschung, wie er als gebauter Raum beispielsweise in der Stadt- oder der Architekturgeschichte thematisiert wird. Raum als Kategorie aufzufassen müsste meinen, dass der Raum eine unhintergehbare Bedingung der Wirklichkeitskonstitution ist. Als solche taucht er bereits bei Immanuel Kant auf, der Raum und Zeit als Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Weltorientierung ansah. Nicht in dem Sinn, dass Zeit und Raum immer schon da sind, sondern dass wir Erfahrungen nur sinnvoll verarbeiten können, wenn wir sie auf Raum und Zeit beziehen. Die Dinge sind für uns dann immer in Zeit und Raum eingebunden, ob sie für sich selbst auch Zeit und Raum haben, ist dann eine ganz andere Frage, deren Beantwortung nahezu unmöglich, aber vielleicht für uns Menschen auch irrelevant sind.

Als Kategorie der geisteswissenschaftlichen Forschung wurde der Raum aber in einem eingeschränkten Sinn verwendet und besonders in den 1920er und 1930er Jahren politisch instrumentalisiert – beispielsweise in der „Kulturraumforschung“, so dass sich seither jeder Versuch, den Raum als Grundbedingung von Geschichte und Geisteswissenschaft dem Vorwurf erwehren muss, einen ideologisierten Determinismus aufzubauen.

Nur wenigen Ansätzen ist es gelungen, eine politisch korrekte Formulierung des Raums als Kategorie geisteswissenschaftlicher Forschung zu entwickeln. Die einflussreichsten Ansätze liegen in den Arbeiten einiger Vertreter der Annales-Schule. Auslöser war Braudels 1949 erschienenes Werk über die Welt des Mittelmeers. Das dort anvisierte Raumkonzept wurde aber von den folgenden Generationen der Annales-Schule, beispielsweise von Alain Corbin, scharf kritisiert. In jüngster Zeit sind im Kontext der Diskussionen um den Körper als Forschungsgegenstand und Kategorie zeitgemäße Formulierungen eines Raumkonzepts diskutiert worden. Diese Wiederentdeckung des Raums als leitende Kategorie der Kulturforschung wird als „spatial turn“ diskutiert. Durch die Digitalisierung unserer Lebenswelt beginnt sich unter dem Begriff der „Virtuellen Realität“ eine Neubestimmung des Raumbegriffs zu entwickeln, die von bisherigen klassisch physikalistischen Begriffsbestimmungen wegzuführen scheint.

Stefan Haas