Historismus als epochale Denkform der Geschichtswissenschaft

Als Historismus bezeichnet man eine historisch relativ genau benennbare Konfiguration des historischen Denkens, die mit den Namen Ranke, Niebuhr, Droysen, Treitschke, Sybel und vielen anderen verbunden wird. Sie dominierte das geschichtswissenschaftliche Denken zwischen den 1820er und den 1890er Jahren. Ende des 19. Jahrhunderts verdichtete sich die Kritik und es kam zum verstärkten Auftreten von alternativen Entwürfen von Geschichtswissenschaften. Zu diesen gehörten die Historische Schule der Nationalökonomie, die Kulturgeschichte, die materialistische Geschichtsschreibung und die naturwissenschaftlich orientierte Geschichtsbetrachtung. Dem Historismus gelang es jedoch, durch eine einseitige Berufungspolitik und die Besetzung der wichtigsten Institutionen, diese abzuwehren. Zudem entsprach seine konservative Grundhaltung dem Denken eines großen Teils des deutschen Bildungsbürgertums. In Deutschland konnte der Historismus so bis in die 1960er Jahre maßgebend die Entwicklung der Geschichtswissenschaft bestimmen.

Historismus in dieser Form ist hermeneutisch, d.h. er vertritt eine Erkenntnistheorie, die die Motivationen für ein Handeln durch ein sich in den Handelnden hineinversetzendes „Verstehen“ sucht. Daher auch die Betonung der historischen Persönlichkeit und die damit verbundene Ablehnung sozialer Bewegungen als Ursache historischer Entwicklung. Das Unbewusste im Freudschen Sinn kannten die Historisten noch nicht, später ignorierten sie es. Sie gingen von einer irrationalen genialen Schöpferkraft des großen Individuums aus, die letztlich unerklärbar den Grund für historische Entwicklung darstellt. Der Historismus ist einseitig politikgeschichtlich ausgerichtet und betont dabei das Primat der Außen- vor der Innenpolitik, d.h. Entwicklungen in der Politikgeschichte und damit der Geschichte überhaupt werden in erster Linie durch außenpolitische Konstellationen und Handlungsnotwendigkeiten (Bündnisse, Interessen, Kriege) bestimmt. Sein Idealbild ist der diplomatisch gewandte Politiker, der zur Durchsetzung des eigenen Machtinteresses auf internationaler Bühne die Fäden in seinem Sinn zu führen versteht. In der Betonung der Persönlichkeit ist auch ein weiterer Zentralbegriff des Historismus inbegriffen: jener der Individualität. Der Historismus ist in seiner Nachwirkung von vielen folgenden Richtungen und Strömungen innerhalb der Geschichtswissenschaft abgelehnt worden. Sein Verdienst jedoch ist es, entscheidende institutionelle wie methodische Elemente einer wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung etabliert zu haben, zu denen u.a. die quellenkritische Methode gehört. Die disziplinäre Matrix des Historismus hat Jörn Rüsen herausgearbeitet.

Stefan Haas