Alltag als Kategorie I

Angesichts der Bedeutung des Begriffes Kategorie als analytischem Grundbegriff des Sprechens über Geschichte könnte es auf den ersten Blick verwundern, dass der Begriff Alltag einer der wenigen Kategorien der Geschichtswissenschaft sein soll. Es leuchtet leicht ein, dass ein großer Teil der Geschichte Alltag ist. Aber sind es nicht gerade die nicht alltäglichen Geschehnisse, die Kriege, Entdeckungen, Erfindungen oder Krisen, die epochale Veränderungen in der Geschichte hervorbringen? Dennoch ist die Alltagsgeschichte, wie sie in den 1980er und frühen 1990er Jahren diskutiert wurde, von ihrer Zielsetzung her mehr als eine der vielen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, die sich wie die Verwaltungsgeschichte oder die Verkehrsgeschichte durch ihren Gegenstandsbereich von anderen unterscheiden.

In der genannten Hochphase der Alltagsgeschichte war mit ihrer Entwicklung die Hoffnung verbunden, eine neue Grundlage der Geschichtswissenschaft zu entwickeln, mittels der die damals als Krise der Sozialgeschichte, besonders der Historischen Sozialwissenschaft empfundenen Probleme überwindbar waren. Letztlich hat die Alltagsgeschichte es aber nicht vermocht, diese Hoffnungen zu erfüllen. Trotz der verschiedenen, unten zu behandelnden Ansätze zur Definition des Begriffs gelang es nicht, dem Begriff jene kategoriale Weite zu geben, die notwendig gewesen wäre, um ein neues Paradigma der Geschichtswissenschaft darzustellen. Hinzu kam, dass seit Anfang der 1990er Jahren mit dem ‚cultural turn’ ein Begriff die theoretischen und konzeptionellen Diskurse zu dominieren begann, der jene Aufgabe, die integrale Kategorie der Geschichtswissenschaft zu sein, zu erfüllen versprach.

Vieles, was ursprünglich in die Alltagsgeschichte gehörte, ist unter der Chiffre ‚Kulturgeschichte’ weiterentwickelt worden. Tatsächlich war Alltag mehr als eine Teildisziplin, denn Alltag ließ sich sehr wohl als Kategorie begreifen. Der große Gegner der Alltagsgeschichte war die Historische Sozialwissenschaft, obwohl beide soziale Phänomene in den Mittelpunkt stellten und sich so vom traditionellen Historismus abgrenzten. Die Historische Sozialwissenschaft untersuchte Strukturen der historischen Wirklichkeit. Der Alltag war für sie nur die Bühne, auf deren die Funktionsweise der Strukturen aufgeführt wurde. Die Alltagsgeschichte kritisierte nun, dass der einzelne Mensch in den Strukturen verloren gehe und zur Marionette übergeordneter Prozesse werde. Für die Alltagsgeschichte war Alltag die Ebene, auf der Strukturen nicht nur passiv angeeignet, sondern auch von den einzelnen Menschen ihrem Lebenshorizont angepasst und dabei verändert werden konnten. Der Alltag erschien mithin trotz seiner Invariabilität, seiner vermeintlichen Konstanz, seiner Undynamik, was in dem Begriff der ‚Alltäglichkeit’ zusammengefasst werden kann, als Ort, an dem kleine Verschiebungen struktureller Sinnvorgaben stattfanden und wo sich der Sinn sozialer Existenz erst realisierte, der tatsächlich geschichtswirksam werden konnte. In dieser Form schrieb der italienische Historiker Carlo Ginzburg ein Buch mit dem Titel „Der Käse und die Würmer“, in dem er anhand von Inquisitionsprotokollen das Weltbild eines einfachen italienischen Müllers um das Jahr 1600 rekonstruierte. Alf Lüdtke beschrieb mit dem Begriff des ‚Eigen-Sinns’ die Formen, in denen Fabrikarbeiter in der Industrialisierung sich strukturelle Vorgaben wie Verhaltensordnungen am Arbeitsplatz ‚zu eigen’ machten, ihrer Lebenswelt anpassten und damit Neues schufen – und sich nicht als willige Agenten übergeordneter struktureller Prozesse entpuppten. Erst jüngst ist mit der Historischen Implementationsforschung ein Froschungsfeld entstanden, in denen gewissermaßen der Alltag des Politischen als letztlich Wirklichkeit konstituierend angesehen wird. Die klassische Politikgeschichtsschreibung beschäftigte sich mit Gesetzen und mit Verträgen. Im Kontext der genannten Implementationsforschung jedoch wird davon ausgegangen, dass Politik nicht das ist, was ein Gesetz formuliert, sondern das, was im Prozess der Implementation des Gesetzes entsteht. Das Durchlaufen verschiedener Instanzen, die darin eingeschlossene komplexe Kommunikation über das Gesetz und die Modifikationen, die aus diesem und den unterschiedlichen kreativen Adaptionsprozessen der beteiligten Instanzen resultieren, verändern das ursprüngliche politische Programm. Insofern ist der Alltag eines Gesetzes bestimmender für die Wirklichkeit der Menschen als der reine Gesetzestext selbst. Und in vielen Fällen lässt sich nachweisen, dass das was realisiert wird, von dem was das Gesetz fordert unterschieden ist.

In den 1980er Jahren resultierte das Interesse an der Alltagsgeschichte aber nicht nur aus ihrem theoretischen Potential. Alltagshistorische Bücher waren Bestseller auf dem Buchmarkt. Das besondere Interesse an der Alltagsgeschichte, das Interesse auch an der materiellen Kultur, resultierte zum einen aus der größeren Anschaulichkeit, mit der man Geschichte bearbeiten konnte. Vielen hielten dies für eine Notwendigkeit, da von nicht wenigen die abstrakten Formen der Thematisierung der Vergangenheit in der Strukturgeschichte als zu unanschaulich abgelehnt wurden. Ein weiterer wichtiger Grund war aber auch, dass dem im Übergang von der modernen zur postmodernen, von der industriellen zur postindustriellen Kultur lebenden Menschen der 1980er und 90er Jahre die Alltagswelt des vormodernen und modernen Menschen zunehmend fremd wurde. Der Alltag wurde nicht als das nahe liegende thematisiert, sondern als das Fremde, das Andere. Diese Distanz, diese Differenz, ist einer der Gründe, warum die Alltagsgeschichte letztlich ein postmodernes Denken war und sich von dem auf Identität setzenden Denken des Historismus abgrenzte. Allerdings muss man dabei zwei politisch unterschiedlich motivierte Richtungen innerhalb der Alltagsgeschichte unterscheiden. Stand die eine, zu der auch der oben genannte Alf Lüdtke zählt, im Kontext einer linksliberalen, in den 1980er Jahren zunehmend alternativ orientierten Geschichtsschreibung, so gab es auch eine konservative Alltagsgeschichte. Deren Ziel war es, den Übergang von der Vormoderne zur Moderne nicht nur als Geschichte eines Gewinns an Demokratisierung, Selbstbestimmung und liberalen Freiheitsrechten zu lesen, sondern die Welt zu beschreiben, die „wir verloren haben“ (Peter Laslett). Die Alltagsgeschichte entstand in einer politischen Kultur, die noch deutlich von der Rechts-Links-Teilung geprägt war und deren Konzepte immer auch Reaktionen auf die Reformbewegungen der 1960er Jahre gewesen sind.

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